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Leseprobe „Der Wandläufer“
Bernhard Hoffmann, 2018, Moondark Verlag
 

Freunde sind etwas Wundervolles, Wertvolles und Unersetzliches – nun, meistens jedenfalls.
Als ich aber zu meinem 50. Geburtstag von meinen Freunden umringt war, wurde mein Glauben
an jene Menschen, die ich zum Teil schon über 30 Jahre kannte, in seinen Grundfesten erschüttert.
Noch jetzt sehe ich ihre erwartungsvollen Gesichter, als mir mein bester Freund das völlig unscheinbare
Kuvert in die Hand drückte und sie mich dabei beobachteten, wie ich es – zu diesem Zeitpunkt noch
gut gelaunt und völlig ahnungslos – öffnete.

Simon fuhr fort. „Nie ist er in ein weit entferntes Land gefahren. Nie in eine große Stadt mit einer ganz
anderen Kultur und einem ganz anderen Lebensstil!“ Er lächelte mich an, dann hob er die Stimme und
fuhr nachdrücklich fort. „Und deswegen fordern wir ihn heraus. Wir stoßen ihn in ein Abenteuer und wollen,
dass er seinen Alltag durchbricht und zu neuen Ufern reist!“ Er räusperte sich nochmals, bevor er fortfuhr:
„Wir, seine engsten Freunde und Kollegen, haben ihm und seiner lieben Frau eine Reise geschenkt.
Eine Reise, die ihn in eine andere Stadt, aber auch in eine andere Welt führen wird. Eine Reise, die Abenteuer
und völlig neue Eindrücke verspricht: eine Luxusreise nach NEW YORK!“

Den Namen der Stadt rief er laut hinaus, und alle begannen zu jubeln. Während Simon noch erklärte,
dass wir in einem der besten Hotels der Stadt absteigen würden und Details zu dem Aufenthalt ausführte,
begann Anette zu lachen. Für alle Zuseher musste es so wirken, als wäre sie überglücklich, doch sie
und ich, wir wussten es besser. Sie lachte aus Verzweiflung und sicher auch über die Skurrilität der Situation.

Denn ich konnte einige Dinge überhaupt nicht ausstehen. Fernreisen zum Beispiel. Je weiter weg sie führten,
desto unnötiger und dekadenter erschienen sie mir. Oder Amerika, ein Land, das ich vor allem mit imperialem
Verhalten, Umweltverschmutzung und Arroganz verband. Ein Land, von dem ich nichts wissen und das ich
schon gar nicht bereisen wollte. Und in diesem Land gab es einen Ort, den ich geradezu hasste, der für mich
das moderne Sodom und Gomorrha darstellte, einen Ort, dem man jedenfalls fernblieb und der nur Negatives
bei mir auslöste, und das war: New York. Während viele Menschen diese Metropole wohl als eine der großartigsten
und beeindruckendsten wahrnehmen, war mir schon seit meiner Jugend diese Stadt der Superlative nur auf die
Nerven gegangen. Sitz der Wall Street, einem Ort, an dem wahrscheinlich die größten Wirtschaftsverbrechen
der Welt über die Bühne gingen. Manhattan, ein auf dem Reißbrett konstruierter Stadtteil, bei dem die Fantasie
der Stadtplaner nicht einmal gereicht hatte, um den Straßen richtige Namen zu geben, nein: Sie wurden einfach
durchnummeriert, wie Boxen in einem Kuhstall oder Stockwerke und Gänge in einem Krankenhaus. Der Central Park,
hochgelobt und bewundert und doch nichts anderes als Grünfläche, die nach Einbruch der Nacht so unsicher ist,
dass sich niemand mehr hineinwagt. Tagsüber Erholungsgebiet, in der Nacht Schauplatz von Mord und Totschlag,
Vergewaltigung und Drogenhandel. Die Afroamerikaner saßen in Harlem, die hispanische Bevölkerung überwog
in der Bronx – eine ethnische Einteilung, die jeglicher westlicher Offenheit spottete, und das im 21. Jahrhundert!

Während mir all diese unerfreulichen Informationen durch den Kopf gingen, ärgerte ich mich darüber, dass mein
Wissen über diesen klebrigen und übel riechenden Fleck auf der Landkarte so groß und detailliert war, doch mein
Großhirn schüttete gnadenlos weitere Fakten aus: überteuerte Preise bei McDonalds und Starbucks, Stau und Big
Business, wohin man blickte,der permanent präsente Stress (das „pulsierende Leben“, wie es Fans nannten)
– all das konnte mir einfach gestohlen bleiben. Und in diesen zehnten Kreis der Hölle, den Dante in seinem Inferno
noch nicht beschreiben konnte, weil es ihn damals einfach noch nicht gegeben hat, wollten mich meine Freunde
mit einem gemeinsamen „Alles Gute!“ hinabstoßen.

„Ich bin zu Hause!“, rief ich, und als ich keine Antwort bekam, versuchte ich es nochmals. „Anette?“

Sie kam aus der Küche, das Telefon am Ohr. Sie hob eine Hand, um mir zu bedeuten, dass sie gerade in
ein Gespräch verwickelt war.

„In Ordnung, dann bringe ich dir heute noch den Schlüssel vorbei, gut? Ja, den Code von der Alarmanlage … genau.
Ich erkläre dir das dann noch. Bis dann!“

Sie beendete das Gespräch und sah mich an. „Meine Mutter kümmert sich um die Pflanzen.“

Natürlich, ging es mir auf, wollten die in unserer Abwesenheit ja auch versorgt werden. Dann deutete ich auf
das Vorzimmer. „Wir haben … neue Koffer?“
Anette schnaubte. „Ernsthaft? Die sind schon seit Jahren in unserem Schrank!“ Vorwurfsvoll sah sie mich an.
Wo lag das Problem?

„Und du hast schon gepackt? Für mich auch?“

Sie starrte mich an. „Schon? Hast du ,schon‘ gesagt? Peter, wir fliegen morgen. MORGEN!“

Ich sah auf die Uhr. „Ja, da haben wir noch locker …“
„Vielleicht müssen wir aber nicht alles in letzter Minute machen!“, unterbrach sie mich unwirsch. „Vielleicht will ich
entspannt verreisen und nicht wie letztes Mal noch einmal mit dem Taxi umdrehen müssen, weil wir dein Aufladegerät
vergessen haben.“
Ich hob den Finger, um etwas zu sagen, doch sie hob schroff die Hand.

„Oder die Hälfte des Urlaubsbudgets ausgeben müssen, um Sachen nachzukaufen, die du zu Hause vergessen hast!“

Ich ließ die Schultern hängen. Diese Runde ging an sie. Letztes Mal hatte ich – in der irrigen Annahme, in Italien sei es
immer warm und sonnig – einiges vor Ort nachkaufen müssen, und zwar zu Preisen, an die ich mich lieber nicht mehr
erinnern wollte.

(New York, Central Park)

Ich bin kein ängstlicher Mensch, obwohl ich mich schon als vorsichtig bezeichnen würde. Ich hatte auch nicht vor,
in die dunklen Ecken dieses Parks abzubiegen, aber umgeben von den Wolkenkratzern und die Musik von nahen
Straßenmusikern im Ohr schien mir nichts sicherer und natürlicher zu sein, als hier in aller Ruhe mein Programm
abzuspulen. In diesem Moment begann ich den Aufenthalt wirklich zu genießen und lief mit einem Lächeln auf
den Lippen weiter.

Bald kam ich an einen See und folgte ein Stück weit dem Verlauf des Ufers. Es hatte wirklich seinen eigenen Zauber,
das Licht der Hochhäuser im Wasser gespiegelt zu sehen. Ein Läufer kam mir entgegen und deutete in seine Laufrichtung.
„Falsche Richtung, Mann!“, rief er mir zu. Offenbar gab es hier Vorschriften, in welcher Richtung man zu laufen hatte.

Ich drehte um und lief weiter, bald links, bald rechts. Die Zeit verging, und ich kam an einer großen Wiese vorbei,
drehte um, lief wieder zurück und war bald nicht mehr ganz sicher, wo nun Norden und wo Süden war. Dennoch
beunruhigte es mich nicht sonderlich. Ich konnte den Verkehr hören und sah in einiger Entfernung die Grenze des Parks.
Ich blieb an einer Bank stehen und verschnaufte. Langsam begann ich mit meinen Dehnungsübungen und blickte mich um.
Ich hatte offenbar die Orientierung verloren, glaubte aber zu wissen, in welche Richtung ich musste. Ich hatte vor,
den nächsten Ausgang zu suchen und dann dem Rand des Parks bis zum Hotel zu folgen.

Als ich aufsah, konnte ich zwischen den Bäumen einen anderen Läufer entdecken. Ich unterbrach meine Übungen
und betrachtete ihn. Er lief zielstrebig in eine Richtung, in der ich den Ausgang vermutete. Da es schon recht spät war,
vermutete ich, dass er auch hinauswollte, und beschloss, ihm einfach zu folgen. Ich lief über eine kleine Wiese und
bog dann auf den Weg ein, auf dem er lief. Er war gut 200 Meter vor mir, und ich stellte schnell fest, dass sein Tempo
sehr hoch war. Ich hielt mich für einen guten und geübten Läufer, aber der Mann vor mir lief sicher doppelt so schnell,
wie ich das normalerweise tat. Ich beschleunigte und versuchte zu ihm aufzuschließen. Bald keuchte ich, behielt aber
den Läufer vor mir im Blick, der mit erstaunlicher Leichtigkeit seine Schritte setzte. Ich überlegte, ob ich nicht lieber
doch selbst einen Ausgang suchen sollte, doch ich wollte mich nicht so einfach abhängen lassen. Ich war in meiner
besten Zeit einen Marathon gelaufen, und jetzt sollte ich mich nach ein paar hundert Metern von irgendeinem Läufer
abhängen lassen?

Ich beschleunigte nochmals meine Schritte. Erneut fiel mir auf, mit welcher Leichtigkeit der Mann vor mir lief.
Ich fühlte mich wie eine Dampfwalze, die versuchte, einem Geparden nachzukommen. Wir liefen an einem Teich
entlang, und ich war auf fast 100 Meter herangekommen. Rechts konnte ich Hochhäuser erkennen; wir mussten
also schon relativ nahe am Rand des Parks sein. Der Weg zog sich nach rechts und mündete in eine der zahlreichen
gemauerten Unterführungen, die jetzt in der Nacht auch innen beleuchtet waren. Der Mann lief genau darauf zu,
und ich merkte, dass ich dieses Tempo einfach nicht länger halten konnte. Ich wurde langsamer, während der Mann
vor mir sogar noch zu beschleunigen schien. Bewundernd blickte ich ihm nach, während er die Unterführung erreichte.
Im nächsten Augenblick geschah etwas, das mich an meiner Sehkraft zweifeln ließ: Der Mann sprang mit einem großen
Schritt auf die linke Tunnelwand – und lief, fast waagrecht in der Luft liegend, die gesamte Länge der Unterführung auf
der Mauer weiter, alle Gesetze der Schwerkraft verhöhnend. Vor Verblüffung wäre ich fast hingefallen, konnte mich
aber gerade noch fangen und blieb stehen. Ich konnte noch erkennen, wie er am Ende der Unterführung von der Wand
auf den Boden sprang und mit der gleichen Leichtigkeit in der dahinter liegenden Dunkelheit verschwand.

„Ich habe gestern etwas gesehen“, begann ich zögernd. „Aber wenn ich dir das erzähle, wirst du glauben, dass ich spinne.“
Sie sah mich stirnrunzelnd an. „Das glaube ich sowieso. Also raus mit der Sprache!“

Annette grinste. „Du hast du Spiderman kennengelernt! Das ist doch etwas, oder?“

Ich nickte zögerlich und blickte über die Dächer der Stadt. Irgendwo da draußen war ein Läufer,
der etwas Unmögliches gemacht hatte. Der Mann war weg, aber die Fragen waren geblieben.

Ich senkte kurz den Kopf, dann hob ich ihn und sah Anette an. „Was mache ich jetzt damit?“

Sie lächelte. „Du meinst, ob du die ganze Sache einfach vergessen solltest, weil sie dich so verwirrt?“

„Ja. Nein. Ich weiß es nicht. Was kann ich denn sonst tun?“ Ich warf die Hände in die Höhe und seufzte.
„Das ist nicht einmal eine Geschichte, die man erzählen kann! Das glaubt doch niemand!“ Sie schlug
die Augen nieder, und es entstand ein langes Schweigen.

„Was würdest du tun, wenn du so etwas gesehen hättest?“, fragte ich endlich. Ich sah meine Frau an.
„Würdest du es einfach wegschieben?“

Sie stützte ihren Kopf auf eine Hand und dachte nach. „Ich habe keine Ahnung“, sagte sie nach einer Weile.
„Das ist so seltsam, so irre! Ich wüsste nicht einmal, mit wem ich darüber sprechen sollte, außer mit dir.
Das glaubt doch …“

„… einfach niemand“, ergänzte ich.
Stumm saßen wir da, dann drehte Anette den Kopf ein wenig.

„Ja?“, fragte ich hoffnungsvoll. Sie tat das, wenn ihr etwas einfiel. Sie schwieg noch ein paar Sekunden
und fragte dann: „Wann läufst du, wenn du in Wien bist?“
„Wenn ich ganz brav bin, jeden Abend“, sagte ich.
„Und wann?“, fragte sie nach.
„Wann es sich ausgeht. Meistens so um 9 Uhr am Abend, manchmal früher, manchmal später.“
„Aber du versuchst es regelmäßig zu machen, oder?“ Sie sah mich an. „Ja, natürlich … Worauf willst du hinaus?
Das weißt du doch alles.“

Jetzt sah ich sie auch an. „Du meinst …“

„Vielleicht läuft er jeden Abend dort“, sagte sie.

Das konnte gut sein, dachte ich bei mir. So geschmeidig und elegant wie dieser Läufer sich bewegt hatte,
ließ das auf viele Jahre Lauftraining schließen.

Ich lief an einer großen Tennisanlage vorbei und folgte dem Weg, der sich leicht bergauf und nach rechts zog.
Ich kam auf eine der zahlreichen Brücken, sie war direkt auf den großen See ausgerichtet. Da man von hier einen
guten Überblick hatte, sah ich mich aufmerksam um, als ich eine ungewöhnliche Bewegung wahrnahm. Ich blieb stehen
und sah nach links über das geschmiedete Brückengeländer, unter dem sich ein Weg erstreckte. Irgendwo da hatte
sich etwas bewegt, doch ich konnte nicht genau sagen, wo. Der Weg unter der Brücke war leer, und ich dachte schon,
dass es sich vielleicht um ein Tier gehandelt hatte – als ich ihn sah.

Er lief von der Brücke weg, aber zwischen den Bäumen, die etwas abseits des Weges standen. Jetzt rannte er wieder
auf den breiten Weg zu, und ich konnte ihn genau beobachten. Seine Schritte waren noch weicher und anmutiger,
als ich sie in Erinnerung hatte. Es war, als ob seine Füße bereits vom Boden wegfederten, noch bevor sie richtig
aufgesetzt hatten. Er ließ seine Hände eigenartig gestreckt zur Seite hängen und war in seiner Bewegung
bemerkenswert aufrecht. Bewundernd sah ich ihm zu und hätte das sicher noch länger getan, wenn mein Verstand
nicht auf einmal einen recht naheliegenden Gedanken in mein Bewusstsein geschoben hätte. „Lauf, lauf!“, erinnerte
ich mich drängend und setzte mich ruckartig in Bewegung.

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Viel Freude beim Lesen! 

Bernhard Hoffmann

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